„Noch immer sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen die Todesursache Nummer eins in Deutschland und Europa“, erläuterte nutriCARD-Clustersprecher Prof. Dr. Stefan Lorkowski von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Umso drängender ist das Anliegen von nutriCARD: Grundlagenforschung vorantreiben, traditionelle Lebensmittel optimieren, die Verbraucher sensibilisieren und den Dialog suchen.
Mit der Sicht der Verbraucher startete die nutriCARD-Jahrestagung – in Form eines Videos mit Meinungsäußerungen aus der Bevölkerung zu gesunder Ernährung. Sodann zeigte Christophe Maire, einer der führenden Start-Up-Unternehmer im Ernährungsbereich, auf, was bereits an Geschäftsideen besteht: In Supermärkten wird frisches Gemüse unmittelbar vor Ort produziert. Eine für ihn zukunftsweisende Idee, da rund zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten lebe. Als weiteres Beispiel nannte er die Gewinnung von Proteinen aus Maische, die zum Bierbrauen verwendet wird. Auch die Mineralisierung von normalem Leitungswasser mit Kapseln gehöre zu vielversprechenden Vorhaben, zumal der Markt für abgefülltes Wasser mehrere Milliarden Euro jährlich umsetze, die Flaschen aber erst zum Verbraucher transportiert werden müssten. Auch Apps für Smartphones etwa zur Raucherentwöhnung oder zum Stressabbau zählen laut Maire zu den Produkten, mit denen eine gesündere Lebensweise befördert werden könnte.
In der anschließenden Podiumsdiskussion brachte Dr. Tobias D. Höhn, nutriCARD-Leiter Kommunikation und Medienforschung, Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Medien ins Gespräch. Alle Teilnehmer waren sich einig: Gesunde Ernährung ist ein gesamtgesellschaftliches Thema, findet aber bislang zu wenig Beachtung.
Prof. Dr. Matthias Blüher (Leiter der Adipositas-Ambulanz am Universitätsklinikum Leipzig und Direktor des Helmholtz-Instituts für Metabolismus-, Adipositas- und Gefäßforschung) machte dies an einem aktuellen Gesundheitsthema deutlich: „Der Corona-Virus führt momentan zur Schließung von Millionenstädten, dabei ist die Zahl derer, die an den Folgen von Übergewicht sterben, deutlich höher.“ Ein Grund dafür sei vermutlich, dass der Tod bei manchen Virus-Infektionen innerhalb von wenigen Wochen drohe, bei falscher Ernährung könnten mehrere Jahrzehnte vergehen, bis sie zum Tod führe. Dadurch verdrängten die Menschen gern die Risiken, die damit einhergingen. Zudem zeige sich ein weiteres Problem: „Verzicht ist nicht attraktiv, ein Mehr an Bewegung schlicht unbequem.“ Dabei wüssten die Verbraucher eigentlich sehr viel über gesunde Ernährung, es gebe jedoch ein Umsetzungsdefizit.
Die Lebensmittelindustrie, so Thibault Heck, sei daran nicht ganz unschuldig, denn sie erwirtschaftet riesige Gewinne mit ungesunden Lebensmitteln und Zutaten wie dem billigen Zucker. Heck arbeitete lange Jahre in der Ernährungsindustrie und ist heute Start-up-Investor. „Der Mensch will belogen werden.“ Zudem stellten schwarze Schafe in der Industrie, in der viel zu selten kontrolliert werde, den eigenen Profit über die Gesundheit der Verbraucher. Der sei durch die Komplexität des Themas bisweilen aber auch überfordert. „Es ist frappierend, wie wenig Geld in Deutschland für Lebensmittel ausgegeben wird“, meinte er.
Damit rannte er bei Michael Weichert offene Türen ein. „Wir müssen weg von billig“, forderte der langjährige sächsische Landtagsabgeordnete (Bündnis 90/Die Grünen). Würden Lebensmittel das kosten, was sie eigentlich wert seien, würden vermutlich wesentlich weniger davon vernichtet, weil sie angesichts der billigen Preise derzeit zu viel eingekauft würden. Zudem sei es mehr als sinnvoll, den Fleischkonsum zu reduzieren und, wenn doch, auf regionale Produktion zurückzugreifen, auch wenn dies eventuell teurer sei. Ein Schritt in die richtige Richtung sei es aus seiner Sicht, die in der Landwirtschaft ausgereichten Subventionen zurückzufahren, die nur den Großbetrieben wirklich zu Gute kämen.
Einig waren sich die Diskutanten darüber, dass es deutlich mehr Bildung im Zusammenhang mit gesunder Ernährung geben muss. „Das Ernährungsverhalten hierzulande orientiert sich immer noch an der industriellen Epoche, aber heute malocht ja keiner mehr so wie damals“, sagte der Journalist und Buchautor Jörn Kabisch. Auch Heck und Weichert schlossen sich der These an, wonach mehr Wissen über Ernährung vermittelt werden müsse. Dabei machte Weichert ein gravierendes Defizit aus: „Die heutige Eltern- und Lehrergeneration hat es ja selbst nicht mehr gelernt.“ Es müssten nicht bloß Informationen vermittelt, sondern vielmehr Werte rund um Ernährung stärker in den Fokus rücken.
Im zweiten Teil der Clustervollversammlung gaben zwölf Nachwuchswissenschaftler in Kurzvorträgen einen Einblick über ihre Forschungsvorhaben. So stellte Luise Knoblich ein Kooperationsprojekt der Universitäten Jena und Halle vor, bei dem es um die Vermittlung der Themen Gesundheit und Ernährung im Schulfach Biologie geht. Damit soll Lehrkräften ein Paket an Unterrichtseinheiten an die Hand gegeben werden, um ihnen entsprechende Planungen und Stunden zu ermöglichen. Doch auch in der Produktentwicklung werden neue Wege gegangen: Denise Melde von der Universität Leipzig berichtete über eine pointiert betitelte „Eiskalte Herausforderung“, der sich Wissenschaftler dort stellen: Zucker- und fettarm soll Speiseeis werden, ohne dabei an Geschmack zu verlieren. Marion Klaus (Qualitätsmanagement & Produktentwicklung GmbH Jena) und Sarah Reiners stellten Projekte vor, bei denen traditionelle Lebensmittel durch den Austausch von Inhaltsstoffen gesünder werden können, ohne dass der Verbraucher Einschränkungen in Kauf nehmen muss. In Humanstudien soll dann auch gezeigt werden, dass der Verzehr dieser Lebensmittel gesundheitliche Vorteile bringt.
Julia Kühn und Julia Kotwan von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zeigten, wie in der Grundlagenforschung an der Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitaminen gearbeitet wird, im konkreten Fall Vitamin D. Einige Fragen konnten schon beantwortet werden, weitere Ergebnisse müssen noch abgewartet werden. Einen praxisorientierten Ansatz zeigten Kommunikationswissenschaftler der Universität Leipzig: Sie wollen die sächsische Metropole zur Modellstadt für herzgesunde Ernährung machen – und zwar indem sie mit ortsansässigen Gastronomen zusammenarbeiten, die optimierte Rezepte in ihren Restaurants verwenden wollen. „Wenn sich das etabliert, haben die Gastronomen dadurch sicher einen Wettbewerbsvorteil“, meinte Bettina Storch.
Durchaus kontrovers betrachtet wurde die Rolle der Medien bei der Berichterstattung rund um Ernährung. „Sie suchen Neues, setzen Trends und stellen dabei manche Entwicklungen eher positivistisch dar“, meinte Jörn Kabisch. Dass sie dabei bisweilen auch falschen Thesen aufsitzen, kann auch an der Kommunikation von Wissenschaftlern liegen: Wenn etwa Studienergebnisse veröffentlicht werden, ohne dass Journalisten diese richtig einordnen können, liege der Schwarze Peter manchmal bei Wissenschaftlern selbst. „Wir müssen seriös und verlässlich kommunizieren“, unterstrich Lorkowski. Dies sei umso wichtiger, als Hochschulen als vertrauenswürdige Quellen gelten. Dieses Vertrauen dürfe nicht verspielt werden.
Der nutriCARD-Clustersprecher wagte einen Blick in die Zukunft des Projektes – auch jenseits der Förderperiode. Insbesondere die Anfertigung von Studien am Menschen und am Tiermodell sei teuer und müsse gefördert werden, richtete er einen Appell auch an die Politik. Denn die Aussichten für das Projekt könnten äußerst positiv sein: „Wir haben eine nachhaltige Struktur aufgebaut, sind sichtbar geworden und wollen unsere Arbeite im Mitteldeutschen Zentrum für Ernährung und Prävention von stoffwechselbedingten Erkrankungen bündeln. Und wer weiß: Vielleicht entsteht daraus einmal das Deutsche Zentrum für Ernährungsforschung.“ Forschungsdesiderate und verbraucher- wie industrienahe Anwendungen sowie Konzepte zur Gesundheitsförderung gibt es genug, fehlt nur noch eine grundständige Finanzierung um dies umzusetzen.
Text: Jörg Aberger
Fotos: Swen Reichhold